Miss Borderline - jung, impulsiv und extrem verletzlich
- andrea maierhofer
- 26. Okt.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Nov.

Andrea Maierhofer10. Oktober 2025
3 Min. Lesezeit
Manchmal fühlt sich das Leben doch wie ein ständiges Auf und Ab an. Intensive Gefühle, impulsive Handlungen, tiefe Leere. Aber befinden wir uns noch im Normbereich oder steckt mehr dahinter?
Viele junge Menschen stoßen beim Suchen im Internet auf den Begriff „Borderline“.
Und erkennen sich total darin.
Doch was bedeutet die Diagnose eigentlich genau? Kann man sich selbst diese Diagnose stellen?
Und welche Wege gibt es bei Behandlung und Heilung?
Bin ich Borderlinerin?
Viele junge Frauen in meiner Praxis erzählen mir, dass sie sich in Social-Media Beschreibungen und bei Selbsttests im Internet total wiedererkennen: starke Emotionen, Stimmungsschwankungen, die manchmal stündlich und sehr abrupt wechseln, instabile Beziehungen mit Angst vor intensiver Bindung und Kontrollverlust, andererseits Angst vor Verlust der Beziehung und Impulsivität werden genannt.
Sich selbst zu hinterfragen ist nachvollziehbar, aber gleichzeitig ist es bis zu einem gewissen Grad normal, in der Jugend intensive Gefühle zu erleben, die (noch) nicht ausreichend reguliert werden können.
Nicht jede Krise und jedes Stimmungstief bedeuten eine Persönlichkeitsstörung. Und nicht jedes intensive Gefühl oder jede impulsive Handlung bedeutet automatisch „Borderline“.
Kann ich die Diagnose selber stellen?
Eine Selbsteinschätzung ist verständlich, aber nicht ausreichend.
Eine klare Diagnose ist komplex.
Nur Fachärztinnen, Psychologinnen und Psychotherapeutinnen können anhand von Gesprächen, Kriterien und Testungen feststellen, ob eine Borderline-Persönlichkeitsstörung vorliegt.
Selbsttests im Internet geben lediglich Anhaltspunkte, ersetzen aber keine professionelle Abklärung. Sich ein „Etikett“ zu geben, kann entlasten, aber auch belasten oder verunsichern.
Definition: Borderline Persönlichkeitsstörung
Was ist das überhaupt? Die Borderline Persönlichkeitsstörung umfasst Symptome wie emotionale Instabilität mit extremen Schwankungen, Angst vor dem Verlassen werden, instabile Beziehungen, Unsicherheit, gemocht zu werden, ernst genommen zu werden, impulsives Verhalten und ein unsicheres, instabiles Selbstbild.
Sie sind sehr misstrauisch, können schwer Vertrauen aufbauen und lösen Bindungen sofort, wenn nur ein falsches Wort fällt.
Sie schwanken stark zwischen Idealisierung und Abwertung von Menschen und Situationen. Die Formulierung Schwarz-weiß Denken trifft es eigentlich sehr genau.
Gefühle können überwältigend wirken, was Beziehungen sehr schwierig macht. Grundsätzlich denken sie, dass sie sowieso verlassen werden, weil es niemand mit ihnen aushält.
Oft werten sie sich selber ab, mögen sich nicht, denken, andere können sie auch nicht mögen. Das führt oft zu Selbsthass, Selbstverletzungen und destruktivem Verhalten. Es ist ja eh alles egal!
Borderline ist aber keine Charakterschwäche oder eine Launenhaftigkeit, sondern eine ernstzunehmende psychische Erkrankung mit biologischen, psychologische und sozialen Ursachen.
Warum Borderline so oft missverstanden wird
In Medien wird Borderline häufig auf „dramatisch, manipulativ, unberechenbar“ reduziert. Das stimmt so aber nicht und hinter der Dramafassade steckt ein Mensch, der tief und dauerhaft traumatisiert wurde.
Wenn die Fassade rissig wird, erkennt man großes Leid und großen Leidensdruck, tiefe Verletzlichkeit, massive Angst vor Ablehnung und den Wunsch, endlich ernst genommen, verstanden und beschützt zu werden. Es ist ein Wunsch nach Stabilität.
Traumatische Kindheitserfahrungen als Ursache (emotional und/oder physisch)
Kindheitserfahrung | Beziehungsmuster als Erwachsene |
· Instabile Bindung (Nähe - Zurückweisung | · Angst vor dem Verlassen werden |
· Emotionale Vernachlässigung | · Überempfindlichkeit bei Zurückweisung |
· Inkonsistenz &Unberechenbarkeit | · Schwankung Nähe - Distanz |
· Grenzverletzungen & Kontrolle | · Instabiles Selbstbild |
· Traumatische Erfahrungen | · Starke Emotionen & Wut |
· Rollenumkehr (Kind stützt Eltern) | · Sehnsucht nach Halt, Misstrauen gegenüber Nähe |
„Sichtlich Verwandt“- Borderline und cPTSD
Borderline Persönlichkeitsstörung | Komplexe posttraumatische Belastungsstörung (cPTSD) |
Vorübergehende paranoide oder dissoziative Symptome | Dissoziative Symptome |
Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlich Beziehungen (Idealisierung und Entwertung | Extremes Misstrauen, Tendenz erneut zum Opfer zu werden |
Weniger Somatisierung | Somatoforme Körperbeschwerden |
Verzweifeltes Bemühen , Verlassen werden zu vermeiden | - |
Identitätsdiffusion rascher Wechsel von Werthaltungen und Zielen | Fehlende Zukunftsperspektive, Verlust von persönlichen Grundüberzeugungen |
Fakten in Zahlen
Borderline Tendenzen zeichnen sich schon in der Jugend ab, diagnostiziert wird jedoch erst im Erwachsenenalter.
Es handelt sich um eine durchgängige, anhaltende Störung der Persönlichkeitsstruktur, die sehr großen Leidensdruck erzeugt, sowohl bei(m) der/dem Betroffenen, als auch seinem Umfeld (beschrieben im ICD10).
Die Intensität der Symptome nimmt oft mit dem Alter ab.
1-2 % der Bevölkerung (Männer und Frauen) sind laut Studien betroffen (dabei zählen nur die Diagnostizierten, die Dunkelziffer wird also wohl höher sein).
10% der ambulanten und 15-25% der stationären Patienten sind Borderline Patienten.
75% der diagnostizierten Borderliner sind weiblich. Es werden 3-4 Mal mehr Frauen als Männer mit Borderline diagnostiziert. Ein Teil dieses Unterschiedes dürfte wohl diagnostisch und kulturell bedingt sein (Männer zeigen häufiger externalisierendes (nach außen gerichtetes Verhalten), das anders etikettiert wird z.B. als antisoziale Persönlichkeitsstörung oder Impulskontrollstörung.
90% der Borderline Patienten haben mindestens eine weitere psychische Erkrankung.
70-75% haben mindestens einmal selbstverletzendes Verhalten gezeigt.
Das Suizidrisiko ist mit 9-10% sehr hoch.
„Typisch weiblich?“ jenseits von Klischees
Wenn auch die diagnostischen Kriterien für Frauen und Männer gleich sind, finden sich doch geschlechtsspezifische Ausprägungen, die klinisch und therapeutisch bedeutsam sind:
Frauen neigen mehr zu internalisierendem Verhalten (nach innen, gegen sich selbst gerichtet), z.B. autoaggressives Verhalten wie Ritzen, Schneiden, sich Verbrennen.
Depressive Symptome und Essstörungen (Binge-Eating, Anorexie, Bulimie) sind viel häufiger.
Außerdem ist die Abhängigkeit in Beziehungen viel stärker als bei Männern.
Frauen neigen mehr zu Selbstabwertung, Schuldgefühlen und Selbsthass.
Männer agieren nach außen, suchen Schuld oft bei anderen, weniger bei sich.
Positiv jedoch ist, dass Frauen mehr Therapie und Hilfebereitschaft zeigen.
Möglicherweise spielen bei der Borderline Erkrankung auch hormonelle Einflüsse eine Rolle, aber auch die Sozialisierung der Frauen (lernen sich stärker anzupassen).
Nicht jede Borderlinerin ritzt sich
Nach außen oft gut funktionierend, wirken viele Frauen angepasst, kontrolliert und leistungsorientiert mit oft perfektionistischen Zügen.
Im Inneren jedoch zweifeln sie stark an sich selbst, haben Schuldgefühle und spüren eine anhaltende innere Anspannung.
Statt offener Wut wie bei Männern, dominiert Selbstkritik, Rückzug, Anpassung und Überforderung im Spannungsfeld: „Ich darf nicht wütend sein“ und „Ich halte das nicht aus“.
In Beziehungen passen sie sich übermäßig an, in der Hoffnung nicht verlassen zu werden und erschöpfen durch ihre Hilfsbereitschaft und Empathie oft innerlich. Bedürfnisse werden unterdrückt oder verleugnet, sie leiden still.
Impulsives Verhalten zeigt sich subtiler: viel Arbeiten, Putzen, Kaufen oder online-Verhalten. Phasenweise Gefühlsregulationsversuche scheitern auf lange Sicht: Essen, Rückzug und riskante Entscheidungen und Rationalisierung : “Ich musste das tun“.
Fehldiagnosen sind häufig, Somatisierung, starke Zyklusabhängigkeit, rezidivierende Depressionen, Angststörung, Essstörung, komplexe PTSD.
Daher oft spät erkannt bei Frauen, die vermeintlich „still leiden“. Es dominieren Gefühle von Leere, innerer Spannung, tiefer Scham über eigene Bedürfnisse und überschießende emotionale Reaktionen.
Möglichkeiten der medikamentösen Behandlung und Therapie
Einerseits ist die Gesprächstherapie ist ein sehr wichtiger Faktor. Medikamente sind leider oft unerlässlich, da starke Depressionen, Ängste und starke Impulsivität zu selbstdestruktivem Verhalten führen und den persönlichen Leidensdruck stark erhöhen.
Als Psychiater behandeln wir nur die Symptome, damit das Leben der Borderline-Erkrankten ein wenig leichter wird. Eine Heilung im engeren Sinne gibt es leider nicht, da es sich um eine Persönlichkeitsstörung handelt, die durchgehend vorhanden ist.
Wir behandeln Depressionen und Ängste mit Antidepressiva, Stimmungsschwankungen und Ängste mit Stimmungsstabilisatoren aus der Gruppe der Antiepileptika, impulsives Handeln mit Neuroleptika, Schlafstörungen mit schlafanstoßenden Antidepressiva oder Neuroleptika.
Die Ursachen und Gründe verstehen, diesen auf den Grund zu gehen, sie anzuerkennen, damit zu leben bedeutet lange, manchmal lebenslange Psychotherapie.
Das Älterwerden ist ein guter prognostischer Faktor: sie gewöhnen sich mehr an ihre Impulsivität, erkennen sie an, lernen damit umzugehen und damit zu leben und können ihre Erkrankung und mehr differenzierter, aus einer anderen Perspektive, sehen.
Es gibt also keine Heilung per se, sondern nur Besserung und Anpassung an die Symptomatik.
Fazit: Auf den Leidensdruck kommt es an!
Borderline ist eine Herausforderung, aber kein Schicksal ohne Ausweg.
Neben den Herausforderungen, sind auch viele Stärken und Ressourcen vorhanden. Menschen mit Borderline sind oft besonders sensibel, einfühlsam und kreativ.
Sie erleben das Leben intensiv und können andere auf tiefgründige Weise verstehen und sind meist ohne Wertung positiv zugewandt.
Ein wichtiger Schritt ist es, die klassischen Borderline Eigenschaften nicht nur als „Problem“, sondern auch als Ressource zu sehen.
Mit professioneller Unterstützung, Geduld und Selbstfürsorge können Betroffene lernen, mit ihren Gefühlen und Impulsen besser umzugehen und ein erfülltes Leben führen.
Wichtig ist: niemand muss diesen Weg allein gehen. Wenn Sie sich in den Beschreibungen wiederfinden, kann ein Gespräch mit einer Fachärztin oder einem Psychotherapeuten ein erster, entlastender Schritt sein.

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